SCHUL-DESASTER IN BERLIN

Lehranstalt als Wartehalle für Knast oder Hartz IV

Wie konnte an der Rütli-Schule die Schulordnung durch das Faustrecht ersetzt werden? Den Schülern ist es gelungen ihre Regeln duchzusetzen, weiß die Neuköllner Journalistin Güner Balci. Und die lauten: Der Stärkere hat Recht, Frauen sind Huren oder unberührbar, Lehrer Feinde oder Opfer.

Berlin - Abends in der Berliner U-Bahn: Ein Mädchen zieht sich aus, bis sie splitternackt ist. Sie wirkt benommen, als stünde sie unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln. Eine Gruppe halbwüchsiger türkischer und arabischer Jungen gibt ihr Anweisungen, sie soll sich selbst befriedigen. Sie macht alles, was man ihr befiehlt, die anderen Fahrgäste schauen zu oder teilnahmslos weg, während die Jungen ihre Handykameras ganz dicht an die Scheide des Mädchens halten, ihr eine Flasche und mehrere Strohhalme einführen und dabei ganz laut lachen.


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Foto: SPIEGEL TV
Solche und ähnliche Szenen erfreuen sich neben anderen Gewaltvideos (siehe links) einer ganz besonderen Beliebtheit bei Jugendlichen. Sie werden gern auf dem Schulhof rumgereicht und wandern von Handy zu Handy. Selbst gefilmt und kommentiert mit einer möglichst abstoßenden Geschichte über das Opfer werden die Filme unter Freunden und Fremden vorgeführt (Mehr zum Thema: SPIEGEL TV MAGAZIN, Sonntag, 2. April, 21.50 - 22.50 Uhr, RTL).

Es dauerte keine Woche und fast jede einschlägige Berliner Schule hatte das Video samt persönlischer Daten des betroffenen Mädchens auf dem Schulhof, ohne dass die Lehrer etwas davon ahnten.

Zwischen Call-Centern und Imbissbuden wächst die Gewalt

Gewalt gehört in vielen Vierteln Berlins zum Alltag. Soziale Brennpunkte werden sie genannt, die Kieze, in denen Armut und Arbeitslosigkeit geballt auf einem Haufen konzentriert sind. Die Mittelschicht gibt es kaum noch; jeder, der etwas bildungsorientiert ist, zieht weg. Eine zunehmende Anzahl von Migranten und die deutschstämmige soziale Unterschicht bewohnen die günstigen Wohnungen in Neukölln oder Wedding.

Typisch für diese Gegenden sind die vielen Callcenter, Internetcafés, Imbissbuden, Billigläden und Videotheken, deren Action und Gewaltstreifen besonders gut laufen. Das Leben der Jugendlichen spielt sich zwischen Schulweg, Straße und Elternhaus ab, nur selten verlassen sie ihr Revier. Eigentlich gar nicht so schlimm, wäre da nicht die ständige Gewalt.

Die Rütli-Oberschule in Neukölln hat jetzt als erste Schule vor der hohen Gewaltbereitschaft kapituliert, Entsetzen macht sich breit über die Zustände in der Schule, bedrohte Lehrer, Zerstörungswut und ungezügelte Gewalt unter Schülern, die sich gar nichts mehr sagen lassen. Als ob das etwas Neues wäre. Die Rütli-Schule ist kein Einzelfall, sie ist im Moment die einzige, die ihr Problem an die Öffentlichkeit trägt.

Die Rütli-Schule ist keine Ausnahme

Das Mädchen aus dem geschilderten U-Bahn-Video ging bis vor kurzem auch noch auf eine Neuköllner Schule. Eine, die sich mit ihrer guten Sozialarbeit und einem guten Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern in der Öffentlichkeit profiliert. Über Kriminalität und Gewalt will man der Presse keine Auskunft geben.

Die Zustände an der Rütli-Schule sind keine Ausnahme, auch andere Schulen in Berlin und ganz besonders im Stadtteil Neukölln können von ähnlichen Hororszenarien berichten, sie dürfen nur nicht oder befürchten einen Imageverlust. Probleme wurden Jahrzehnte lang klein und geheim gehalten. Wie mag wohl die Situation für Jugendliche auf der Straße sein, wenn selbst in der Schule keine Ordnung mehr herrscht und Lehrer ständig Gefahr laufen, zu Witzfiguren zu verkümmern, vor denen ganze Klassen keinen Respekt mehr haben?

Wie soll ein deutscher Lehrer sich bei einem türkisch- oder arabischstämmigen Jugendlichen Respekt verschaffen, der nur den fluchenden und prügelnden Vater als Mann akzeptiert, der nie gelernt hat, Konflikte friedlich zu lösen, und für den der Verzicht auf Gewalt in einem Konflikt eine unzumutbare Kapitulation bedeutet? Müssen Lehrer zu kumpelhaften Streetworkern mutieren und Slang sprechen, um von Ghetto-Kindern akzeptiert zu werden?

Viel Zeit, eigene Regeln aufzustellen

Wenn die Schüler der Rütli-Schule Journalisten und andere mit Steinen bewerfen und anpöbeln, dann nicht, weil sie so empört sind über die übertriebene Berichterstattung, sondern weil es für sie die einzige Möglichkeit ist, sich in Szene zu setzen, um vielleicht endlich mal eine Grenze zu spüren. Wenn dann auch noch bildungsorientierte Mitschülerinnen dieses Verhalten unterstützen und sich bei den gewaltbereiten Jungs positionieren, dann nicht, weil sie es toll finden, dass dumme Platzhirsche den Ton angeben, sondern weil sie die Akzeptanz und Anerkennung der tonangebenden Jungen brauchen, um weiterhin ungehindert und nicht als "Schlampe" auf der Schule zu existieren.

Die Jugendlichen dieser Schulen hatten die letzten Jahre viel Zeit, sich ihre eigenen Spielregeln jenseits der Schulordnung zu basteln, und die sind ganz einfach: das Recht des Stärkeren vor dem des Schwächeren, Mädchen sind Huren oder unberührbar und Lehrer geduldet als Feinde oder Opfer und im seltensten Fall Vorbilder.

Die Chancen auf eine gute Bildung mit Aussicht auf einen Ausbildungsplatz haben für viele Menschen in den letzten Jahren stark abgenommen und können nicht als Erklärung für Selbstjustiz und Gewalt in der Einwanderungsgesellschaft herhalten. Auch Armut und Perspektivlosigkeit ist kein ausreichender Grund, um demokratische Grundrechte zu missachten und Parallelgesellschaften zu legitimieren, getreu dem Motto: Sie könnten ja nicht anders, als unter sich zu bleiben, und ihr einziger Halt sei die Herkunftskultur. Vielmehr müssen die patriarchalischen Modelle, die in den Familien herrschen, hinterfragt werden: die Erziehung, häufig praktiziert durch Gewalt, die Rolle der Frau und der Umgang mit archaischen Ehrvorstellungen.

Die Lehrer in solch schwierigen Schulen brauchen große Unterstützung. Sie sind allein gelassen, und auch einzelne Sozialarbeiter können das Problem nicht beheben. Eine Hauptschule mit einem Migrantenanteil von über 80 Prozent ist für die meisten nur der Warteraum für eine Knast-Karriere oder ein Leben mit Hartz IV. Einsparungen im Bereich Bildung und Soziales haben sich noch nie bezahlt gemacht. Sie schaffen lediglich Ghettos und nehmen den Menschen das Recht auf Chancengleichheit. Kaum ein Mensch, der es sich leisten kann, in einer besseren Gegend zu wohnen, schickt sein Kind auf eine Neuköllner Schule.

In den nächsten Wochen wird die Rütli-Oberschule große Beachtung finden, Unterstützung bekommen und vielleicht sogar bald zum Vorzeigeprojekt der Gewalt- und Kriminalitätsprävention herausgeputzt werden. So wie es bereits in der Kurt-Löwenstein-Schule geschah. Für die Jugendlichen aber wird sich wenig verändern. Die Gewalt wird sich verlagern - in den aufsichtslosen Raum der Straße und der Hausflure. Dort, wo es kaum noch Jugendarbeit gibt, wo im Ernstfall nur noch die Polizei als letzte Instanz eingreifen kann.

Die Journalistin Güner Yasemin Balci wurde 1975 in Berlin geboren und wuchs in Neukölln auf, wo sie bis heute lebt. Sie hat Literatur- und Erziehungswissenschaften studiert und arbeitet unter anderem für das ZDF. In Neukölln engagiert sie sich für das Mädchenprojekt Madonna, das gegen Gewalt gegen Frauen in Migrantenfamilien ankämpft.